Seit über zehn Jahren veröffentlicht die 1985 geborene Katharina Kollmann bereits Musik unter dem Namen Lake Felix. 2017 begann sie darüber hinaus, Songs unter dem Moniker Nichtseattle zu schreiben, erstmals in deutscher Sprache.
Nichtseattle: ein Name wie eine Metapher für einen Ort, von dem man stammt bzw. eben nicht stammt oder für einen, der nur in der eigenen Fantasie existiert. Sagt Kollmann:
„Man könnte genauso gut auch Nichtamerika, Nichtfilm oder Nichtzukunft sagen.“
Eine schöne Reminiszenz an das alte Lied von Tocotronic ist der Name natürlich auch. Nichtseattle stammt übrigens aus Berlin. Aus Berlin-Karlshorst, um genau zu sein.
Erst neulich habe sie dieses Zitat von Karl Marx gelesen und sei sofort gerührt gewesen:
„Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“.
Die Idee
ach ihrem ersten, selbstveröffentlichten Album Wendekid erscheint nun am 29. April 2022 ihr zweites Album mit dem schönen Titel Kommunistenlibido auf dem Label Staatsakt als opulentes Doppel-Vinyl samt Songbook der Illustratorin Fania Jacob.
Die darauf enthaltenen Aufnahmen leben nicht nur von Kollmanns Texten und ihrer atemberaubenden Darbietung an Gitarre und Gesang, sondern auch von der tatkräftigen Unterstützung der befreundeten Musiker*innen Frieda Gaweda am Flügelhorn und Sebastian Albin am Schlagzeug sowie – last not least – der Mixarbeit des Produzenten Olaf O.P.A.L. (The Notwist, International Music). Gemeinsam ist ein lebendiges, ungeschliffenes Werk aus Zartheit und gnadenloser Offenheit entstanden.
Wir können Katharina Kollmann dabei zuhören, wie sie fast Zen-buddhistisch ihre Bariton-Gitarren-Riffs anstimmt und sich immer wieder in Rage spielt, bis der Sturm sich leise legt. Dabei hat sie offenbar Tinte für eine ganze Bücherwand im Bauch. Nichtseattle-Songs funktionieren deshalb wahrscheinlich nie in klassischer Single-Länge. Es sind keine oberflächlichen Ansichtspostkarten, eher abendfüllende Diavorträge. Und nicht weniger als hochsensible Psycho- und Soziogramme. Milieustudien. Loser-Geschichten über die Einsamkeit und die Scherbenhaufen des Lebens, in denen aber immer sehr behutsam und respektvoll mit dem Personal umgegangen wird. Niemals käme es ihr in den Sinn, ihre Figuren zu verraten. Ganz, wie sich auch ihre Gitarre nie nach einem festen Raster spielt, sondern ihrem Instrument einen ganz eigenen, empfindsamen Sound verleiht.
So entsteht eine Musik der leisen Zwischentöne, die uns nie mit übermäßiger Lautstärke erobern will. Die Kunst ihrer Songs liegt vielmehr im Aufbau von Spannungsbögen: Gezielt eingesetzte Pausen wechseln mit überraschenden Chorgesängen und berstenden Distortion-Momenten und bringen immer wieder berührende Sentenzen und überraschende Wendungen hervor. Songs, die für ihre Protagonist*innen immer wieder um ein Zuhause werben, dessen Abwesenheit betrauern oder umarmen. So werden unsere Ängste zu geisterhaften Freund*innen, Schwermut und Trauer zu teils schelmischen Verbündeten. Bis zur nächsten Wendung, bei der man dank Kollmanns erfrischenden Assoziationsketten wieder etwas schmunzeln darf:
„Ich wollte liegen unterm Apfelbaum, gedankenlos auf deinen Schritt dir schauen, ich wollte auch irgendwann ein Kind, es könnte schon sein, dass ich Kommunistin bin.“
Die alte Weisheit vom Fressen, das bekanntlich vor der Moral kommt, verdichtet sie schließlich so: „Denn hier kommt kaum was rein, zu wenig um philosophisch zu sein, doch was alle wollen, daran erinnern wir uns noch, ja wir sind hier wirklich nicht hochgebildet, doch null mal nichts, das wissen wir noch!“ (aus: Hochhauslied). Und leidenschaftsloser Smalltalk wird wiederum dergestalt seziert: „Wie kommst du jetzt auf’s Wetter? Was soll das heißen, wie war mein Tag? Soll das ein Hinweis sein, heißt das, dass du mich nicht magst?“ (aus Kommunistenlibido)
Es tut gut, eine so sensible Künstlerin mit solch einer Beobachtungsgabe, ausgeprägtem Scharfsinn und musikalischer Virtuosität in ihrem Schaffen zu erleben. Jemanden, der verschiedene Beziehungsgeflechte abbilden kann und dabei trotzdem nie die gesamtgesellschaftlichen Lebensumstände vergisst.
Fania Jacob illustriert im beiliegenden Songbook wiederum Musik und Texte in Form einer Graphic Novel. Schon auf dem Cover sitzen einige ihrer Phantasiegestalten in den Fenstern von Hochhäusern, darunter eine personifizierte Libido: Ihre Brüste, Vulven und Penisse tropfen lustvoll, während sie eine Zigarette raucht. Auf anderen Bildern sieht man ein menschliches Herz, das z.B. mit verschränkten Armen, schmollend am Liegestuhl sitzt oder angeschmiegt an die Protagonistin ihr „bla, bla“ vorträgt. Zeichnungen, die die Gefühlswelten und tragische Komik der liebgewonnenen, unbehausten (Anti-)Held*innen aus Kommunistenlibido mit sehr viel Humor und Fantasie widerspiegeln. Sie erscheinen einem nach dem Hören dieses Albums und der Lektüre des Songbuchs jedenfalls erstaunlich vertraut. So hat Katharina Kollmann am Ende vielleicht doch so etwas wie ein Zuhause für sich, ihre Figuren und unsere Ängste gefunden.
Website: Nichtseattle auf instagram
Die Platte bekommen: hanseplatte